Vielleicht ergeht Ihnen das genau so? Alleine das arabische Schriftbild verleitet das Auge, lustvoll den schwungvollen Ranken und komplexen Verflechtungen nachzufahren. Vielleicht um herauszufinden, weshalb diese Buchstaben eine dermassen grosse Anziehungskraft auf uns Betrachter haben? Die einzelnen Schriftelemente, Kurven oder Knickstellen, die ich durch das gekonnte Führen meines Qalams hervorbringe, erwecken in mir das anhaltende Bedürfnis, der geheimnisvollen Tiefe, welche im Schwarz der Tinte und in den weissen Räumen dazwischen liegt, näher zu kommen. Denn das, was am korrekten Ort im richtigen Verhältnis zueinander steht, wird von einer umfassenden Leere kraftvoll zusammen gehalten und vermittelt den Anschein einer geglückten Vollkommenheit.
Aus materieller Sicht ist Kalligrafie eine bescheidene Tätigkeit, es genügen ein Schreibwerkzeug, Schreibflüssigkeit und ein Papier. Wer sich ernsthaft der Kalligrafie-Disziplin verschreibt, erklärt sich bereit, strenge Regeln zu befolgen. Was auf den ersten Anschein einengend wirkt, empfinde ich im Gegenteil befreiend. Kalligrafie verlangt nicht nach originellen Einfällen, die bestehenden Vorgaben nehmen sämtliche Entscheidungen ab. Durch das Handwerk kommt man an die Schrift. Es braucht Durchhaltevermögen, einen Hang zur Sorgfalt und viel Liebe für die Genauigkeit, und wer kalligrafische Spuren auf ein Blatt setzt, wird merken, dass sich darauf der persönliche innere Zustand widerspiegelt.
Das ständige Wiederholen von Schriftkörpern, sensibilisiert die Sichtweise auf die Anatomie. Ich lege mir den breiten Fundus an Buchstaben und Ligaturen, als grafische Motive oder Skulpturen in meinem inneren Museum ab und lasse sie in meine künftigen visuellen Werke einfliessen. Auch die sprachliche Ästhetik verleiht dem Schriftbild seine Schönheit. Visuell wirkt die Rhythmik der horizontalen Bogen- und Wellentäler, welche durch die arabische Sprache entsteht, harmonisch. Lücken und Pausen in und zwischen den Wörtern sind Teile des Schriftbildes.
Für Autodidakten gibt es zahlreiche Schriftmusterbücher mit Schritt-für-Schrittanleitung. Ich empfehle auch, Meisterwerke zu analysieren. Nehmen Sie sich ein Vorbild, vergleichen und kopieren Sie es im analytischen Geiste. Nach der Kopie sollten Sie das angeeignete Wissen durch Wiederholung verinnerlichen und fortwährend verbessern. Ein weiterer Schritt ist, das Aufsuchen eines Meisters. Der Meister muss nicht unbedingt berühmt sein, wichtiger ist die gleiche Augenhöhe. Optimal, wenn das Schüler-Meister-Verhältnis ein Geben-und-Nehmen ist. Wählen Sie ihren Meister vorsichtig, sonst verlieren Sie unter Umständen die Lust an der Materie. Nehmen Sie nicht die oberste Perfektion als Ihr Ziel. Ich empfehle, eine ehrliche und erreichbare Qualität anzustreben, Sie bleiben ohnehin das Leben lang lernend. Mit dieser Einstellung werden Sie es schaffen, Ihre Schrift mit Ihrer Persönlichkeit zu beseelen. Vielleicht werden Sie selbst zum Vermittler.
Die Kalligrafie ist das Gewand der Sprache. Ein Schreibfehler verletzt zwar nicht das Bild in seiner Schönheit, entwertet es aber, und erinnert den Schreibenden an seine Unachtsamkeit im Schreibprozess. Eine sprachlich fehlerfreie Kalligrafie erachte ich als ein Muss. Die Kalligrafie ist eine grafische Disziplin, sie entsteht in der Regel nicht spontan, voraus geht jeweils eine Planung. Lassen Sie Ihre Kalligrafie prüfen, auch wenn Sie der Sprache mächtig sind. Die Auseinandersetzung mit der Schriftkunst zieht Informationen der Sprache, Kultur und Religion mit ein: Eine Chance für den Dialog.
Wer will es nicht? In seiner Tätigkeit den Moment einer Ewigkeit erleben. Die arabische Kalligrafie macht es mir möglich. Manchmal kurz, andermal über Stunden. Lassen Sie sich von den strengen Vorschriften und Ihrem bereits gewonnenen Erfahrungsschatz leiten. Denken Sie nicht an die Perfektion, denn um diese geht es nicht, viel eher um Präzision, aber mit dem Stand, in dem man gerade ist. Wenn Sie es schaffen Handwerk, Erfahrung und Wissen in einen Moment zusammen zu bringen, erfahren Sie einen gegenwärtigen Zustand, die Ewigkeit.